Europa

Die Kinder Von Lidice 🇨🇿

Wie ihr bereits aus meinen vergangenen Berichten erfahren habt, ziehen mich tragische Orte, deren Geschichte für uns unausdenkbar ist, magisch an. Zu den namhaften Schicksalsorten (u.a. Hiroshima 🇯🇵, Tschernobyl 🇺🇦, dem ehemaligen Stalingrad 🇷🇺, oder Pearl Harbor 🇺🇸 …) gesellen sich noch reihenweise weitere Regionen dazu, deren Echo nicht annähernd so laut und berühmt ist.

30 Kilometer nordwestlich der tschechischen Metropole Prag liegt ein winziges Dorf, dessen Schicksal unvorstellbar ist.

1942 wurde SS-Obergruppenführer und General der Polizei Reinhard Heydrich von einem Stoßtrupp des tschechischen Widerstandes in Prag angegriffen und erlag folgen dessen seinen Verletzungen. Die Nationalsozialisten starteten massive Vergeltungsmaßnahmen gegen die tschechische Bevölkerung und wählten, mehr oder weniger willkürlich, das kleine Dorf Lidice aus. In der Nacht auf den 9. Juni umstellte die SS Lidice, blockierte die Zufahrtsstraßen und trommelte alle Bewohner zusammen.

Die bestialischen Vorgänge, bezugnehmend der Ermordung von 173 männlichen Bewohnern und die Hinrichtung bzw. Deportierung der 195 Frauen möchte ich in diese Berichterstattung nicht näher erläutern, dazu gibt es ausreichend Informationsquellen im Web. Beschränken wir uns auf das Schicksal der 82 Kinder, dessen Memorial eine unergründliche, depressive Stimmung auslöst.  

Über 100 Kinder wurden in dieser Nacht von ihren Eltern getrennt. Die SS entschied, dass einige der jungen Seelen zur Germanisierung in ein Heim gebracht werden, dessen ungeachtet fanden die Nazis für die anderen 81 Kinder keine Verwendung und deportierten sie in das Vernichtungslager Kulmhof (Polen 🇵🇱), um sie dort zu vergasen. Ein weiteres Ziel der SS war es, das Dorf vollkommen von der Landkarte verschwinden zu lassen und diesen Ort und dessen Chronik für immer auszulöschen.

Erst Anfang der 50er Jahre siedelte die tschechische Bevölkerung gemächlich wieder zurück in die nähere Umgebung des Massakers, um das Dorf wieder zu errichten. Heutzutage leben gut 600 Seelen in Lidice, dennoch gibt es kaum eine Ecke, die nicht an die tragische Vergangenheit erinnert.

Ich betrete nun die endlos groß wirkende Gedenkstätte und bereits bei meiner Ankunft überwältigt mich ein intensives Gefühl, welches mich schon Ewigkeiten nicht mehr erfahren habe. Die Anlage liegt weit abgelegen von der Zivilisation in einer romantischen, grünen Naturlandschaft. Es ist kurz nach 09.00 Uhr, die Frühlingssonne strahlt bereits und der dazugehörende, riesige Parkplatz ist völlig ausgestorben, was gewiss nicht wirklich überraschend ist. Gedenkstätten dieser Art werden in der Regel nur sehr sporadisch besucht. Für Touristen auf ganzer Linie uninteressant und die heimische Bevölkerung sieht sich kaum in der Lage, sich mit der brutalen Vergangenheit wiederholt auseinander zusetzen.

(Die Kritik und das mangelnde Interesse der hiesigen Bewohner an Gedenkstätten ähnlicher Art sind teils nachvollziehbar. Solltet ihr den näheren Hintergrund wissen wollen: Während meiner Reise durch Litauen visitierte ich die Gedenkstätte Paneriai 🇱🇹 an und nahm mir reichlich Zeit auf diese Thematik detaillierter einzugehen).

Das kleine Museum liegt leicht erhöht auf einem Hügel und von hier aus habe ich eine herrliche Aussicht auf das riesige Gelände der Gedenkstätte. Diese gespenstische Ruhe, diese absolute Totenstille und diese bedrückende Einsamkeit sorgen für eine Atmosphäre, welche die Vergangenheit wieder auferstehen lässt. Gute zwei Stunden spaziere ich das Gebiet ab, um die nähere Umgebung zu erkunden. Allzu viel gibt es ehrlich gesagt nicht zu entdecken: einige Kunstwerke, die eine oder andere Statue, die Umrisse ehemaliger Gebäude, welche in der besagten Juni-Nacht niedergebrannt wurden und die bescheidenen Tafeln mit geografischen Informationen: Dies sind die Ruinen der Scheune, in welcher am frühen Morgen des 10. Juni, 172 Männer erschossen wurden. 

Inmitten des Areals erblicke ich anschließend das Denkmal der Kinder von Lidice. 82 tote Kinderaugen starren mich mit einem Blick an, welcher ein schwer erträgliches Gefühl in mir auslöst. Ich bin völlig zwiegespalten. Ich starre zurück, fotografiere, mit einem unausdenkbar, miesen Gefühl, die Augen der Kinder und will mich einfach nur in Luft auflösen. Einerseits hatte ich die Empfindung, jede einzelne Sekunde, die ich vor den jungen Seelen verbringe, ist eine zu viel, andererseits habe ich wahrscheinlich noch nie so ein wunderschönes, detailgetreues Memorial bewundert.

Wir können jetzt wiederholt über die Faszination ähnlicher Schicksalsorte diskutieren und über die moralische Verwerfung, sie mit modernen Kameras in Szene zu setzten und darüber Berichte zu schreiben … – … vielleicht sollten wir das auch? Den während den Stunden meines Besuches und die Zeit, in der ihr diese Zeilen lest, werden bedauerlicherweise ähnliche Orte geschaffen 🇺🇦. 

 

 

Know Before You Go: Die Gedenkstätte und das anliegende Museum haben 24 Stunden rund um die Uhr kostenlos geöffnet, sind allerdings mit den öffentlichen Verkehrsmitteln wohl nur sehr schwierig zu erreichen. Visit Website!